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Die Paleo Bewegung – ein Phänomen unserer Zeit

Unsere Zeit, das ist die Zeit in der man ordentliche Recherche für einen Artikel über Paleo betreiben möchte und in der Ärztezeitung online nach der Meldung der FDA über die “Warnung vor Diabetes und Gedächtnisstörungen verursacht durch Statine” vom Anfang dieses Jahres sucht. Leider wird man in unseren seriösen Fachmedien hier nicht fündig. Warum nicht? Weil es nicht wichtig war für jemanden, der regelmäßig und ausreichend von Pharmareferenten und durch gesponserten Fortbildungsveranstaltungen beraten wird?

Warum steigen die Kosten im Gesundheitswesen, wenn überall sonst Fortschritt Einzug hält?

Das Moorsche Gesetz der Entwicklung von Computertechnologien z. B. gilt wohl noch, bis unsere Schalter in Schaltkreisen Molekülgröße erlangt haben. In den 80er Jahren hat 1GB Festplattenspeicher noch fast $1 000 000 gekostet. Im Jahr 2000 kostete die Sequenzierung von 1 Megabase Basenpaare fast $10 000; heute zahlt man weniger als 10 Cent. Tatsächlich aber steigen im Gesundheitswesen die Kosten weiter exponentiell an und eine ganze Menge von Parteien verdienen daran. Inzwischen ist auch hinreichend bekannt, das nicht hauptsächlich die Überalterung unserer Gesellschaft dafür verantwortlich ist. Krankenkassen wimmeln neue Kunden mit fadenscheinigen Gründen ab. Sie sind an Versicherten nur interessiert, wenn sie viel Geld bringen. Lukrativ für die Kassen sind vor allem gut eingestellte, chronisch Kranke. Teuer dagegen sind Städter. Wann werden wir endlich wissen, was eine empfehlenswerte Obergrenze für das böse Cholesterin ist? Wird der Richtwert mit der nächsten Generation der Statine noch einmal gesenkt? Wann dürfen wir wieder frohen Mutes Eier essen?

Hinter den Kulissen aber rumort es gewaltig.

Leider gibt es nicht mehr Menschen, wie den südafrikanischen Sportwissenschaftler Professor Tim Noakes. Noakes hatte im vergangen Jahr für Furore gesorgt, als er öffentlich dazu aufrief, dass Käufer seines Buches “The Lore of Running” das Kapitel über Ernährung heraus reissen sollten. Tim entschuldigte sich mit der Begründung, er hätte es zu der Zeit, als er das Buch schrieb, selber nicht besser gewusst. Heute sei er schlauer und im Gegensatz zur herzfreundlichen, fettarmen Ernährung mit Vollkornprodukten, renne er schneller denn je. Tim Noakes geht auf die 60 zu, mit einer Ernährung die ohne Getreide, Milch und Hülsenfrüchte auskommt.

Konservative Quellen empfehlen heute eine Ernährung mit niedriger Glykämischer Last (das heisst Gemüse!). In einer Cochrane Metaanalyse erwiesen sich die Low Carb Diäten wirksamer im Vergleich zu den fettarmen Diäten (Cochrane Database Syst Rev. 2009 Jan 21;(1):CD006296.). Man bekommt den Eindruck, als ruderten die Ernährungsweisen unserer staatlichen, heiligen Gesellschaften für Ernährung gerade nervös zurück. Von zwischenzeitlich 7 Mahlzeiten und Snacks werden aktuell nur noch 3 Mahlzeiten und 2 Snacks empfohlen. Dabei sind wohl beim gestalterischen Wechsel der Pyramide zwei Mahlzeiten vom Teller gefallen. Vielleicht dürfen wir bald mit 3 Mahlzeiten auskommen und auch mal eine auslassen (intermittent fasting). Man vermutet, dies führt zu verlängerten Lebenszeiten und höheren Gedächtnisleistungen im Alter.

Deutlich wird der Paradigmenwechsel, wenn man mit offenen Augen durch die Supermärkte geht.

Über die Qualität von BioBio Zertifikaten mag man streiten. Fest steht, dass keiner mehr daran vorbei kommt. “Glutenfrei” bedeutet nicht mehr aussätzig, sondern füllt ganze Regale in Supermärkten und Discountern. Eines der heißesten Forschungsthemen derzeit ist wohl der “Leaky Gut“. Es verwundert nicht, dass in den meisten wissenschaftlichen Veröffentlichungen italienische Namen auftauchen. Viele Menschen lassen sich nicht mehr einfach mit einer schnellen Diagnose und einer neuen Pille abspeisen, sondern informieren sich selber bei “Doktor Google” und stellen unangenehme Fragen bei der 5 Minuten Audienz in der Praxis. Was soll man den nervigen Patienten erzählen, die gesunde Laborwerte und ein anstandsloses Ultraschall haben und dennoch von Arzt zu Arzt pilgern, weil sie die ständige Müdigkeit und Antriebslosigkeit nicht für normal halten. Diese Patienten wollen auch nicht glauben, dass der Spezialist “Psychosomatiker” sie offiziell für verrückt erklärt, indem er ihnen SSRIs verschreibt.

Steinzeitliche Ernährung wird diesen Sommer auch in Europas Metropolen von Wien über Berlin bis nach Mailand und Paris en vouge. Besonders schnell scheinen es die Skandinavier zu verstehen. Vielleicht liegt es an der guten Schulbildung oder den geselligen Winternächten am warmen Feuer in Höhlen und Blockhäusern. Wissenschaftler, wie Staffan Lindeberg tun ihr Übriges dazu. Ist dieses Paleo Movement eine bloße Modeerscheinung oder steckt tatsächlich mehr dahinter? Eine kurze Google Trends Analyse zeigt eine exponentielle Zunahme der Suchanfragen an die Suchmaschine seit Ende 2007. Seitdem legt das Phänomen ständig weiter an Popularität zu und inzwischen haben auch die Medien den Braten gerochen. Kein TÜV-geprüfter Diättest kommt mehr um eine abfällige Bemerkung über rohes-Fleisch-fressende Neandertaler herum (Das sind die zehn verrücktesten Diäten der Welt).

Der wahre Pioniergeist ist in der Blogosphäre zu finden.

Dort sind einige Personen hervorzuheben, die seit dieser Zeit stetig eine größer werdende und wiederkehrende Leserschaft sammelt. An dieser Stelle seien nur wenige exemplarisch genannt, wobei ein Eintauchen unbedingt empfehlenswert ist, sollte man sich doch lieber selbst ein Urteil aus erster Hand bilden. Besondern Wert haben bei all diesen Blogs und deren Postings die zahlreichen Kommentare. Natürlich muss man dazwischen viel digitalen Müll ausblenden, um zahlreiche kritische und fast immer gut begründete Beiträge zu finden. Das Resultat ist keine von oben herab geschriebene und festgefasste Meinung, sondern ein Dialog, wie er auch an unseren Hochschulen wünschenswert wäre. Dabei verstecken sich die meisten Blogger und auch deren Leser nicht hinter anonymen Nicknames und lustigen Profilbildchen, sondern sind das digitale Gesicht von echten Menschen: Oft mit akademischem Hintergrund, belesene Laien oder Opfer unserer Überflussgesellschaft auf dem Wege der Genesung.

Wer das einmal für einen Monat lang, ernsthaft und ohne Selbstbetrug gemacht hat, versteht, warum das zuvor geformte Bild gar nicht mehr so wunderlich erscheint, sondern zum eigenen Spiegelbild geworden ist.

Alle haben das Medium Internet gemein. Informationen zwecks Antwortsuche, Verbreitung von Informationen zur Hilfestellung und Prävention. Natürlich nicht in Form ärztlicher Diagnosen und Therapieempfehlungen, (Die sind laut “Disclaimer” natürlich nicht empfohlen) sondern mehr mit dem Verweis auf neueste wissenschaftliche Studien oder empirischer Berichte. Dieser Nebel aus Informationen, unglaublichen Erfolgsgeschichten und Berichten wundersamer Körpertransformationen verdichtet sich schliesslich immer mehr zu einem Bild. Niemand hier erhebt den Anspruch auf alleiniges Recht; hier wird ermuntert, angespornt einmal selber auszuprobieren, sich artgerecht zu ernähren.

Marks Daily Apple. Mark Sisson hat in seinem Blog eine Unmenge relevanter Informationen zum Thema Ernährung und Gesundheit zusammen getragen in einer Serie von täglich sehr gut recherchierten Posts.
The Paleo Solution. Robb Wolf als Biochemiker, hat einen sehr wissenschaftlichen Ansatz. Empfehlenswert ist sein Podcast (Top10 zum Thema ´Health´ bei iTunes), der nicht nur Kurzweil für lange Bahn und Autofahrten bietet, sondern ein wahrer Schatz von sorgsam beantworteten Hörerfragen und Emails ist.
Chris Kresser. Der Arzt, dem die Frauen vertrauen. Chris ist Allgemeinmediziner und Naturopath. Sein Blog ist gerade bei Frauen sehr populär, weil er besonders hormonelle Phänomene thematisiert und auch eine der meist gelesensten Quellen zum Thema Schilddrüse im Internet ist.
Whole9.com. Dieser Blog eines Pärchens ist ´Hand´s on`. Das Programm für den einmonatigen Paleo Challenge heisst Whole30 und ist genau richtig, wenn man gar nicht viel vorher lesen möchte, sondern einfach nur machen! Diese beiden hatten auch mal aufgerufen zum sogenannten Paleo Elevator Pitch, der Paleo in 60sec erklärt:

Übersetzung auf Paleowiki.de:
Paleo Kurz und Bündig

Ich esse “real food” – frische, natürliche Lebensmittel wie Fleisch, Obst und Gemüse.

Ich bevorzuge Lebensmittel mit hoher Nährstoffdichte und vielen natürlich enthaltenen Vitaminen und Mineralien, über Lebensmittel, mit vielen Kalorien, aber wenig Nährwert.
Die Qualität von Lebensmitteln ist außerdem sehr wichtig – ich achte darauf von wo mein Fleisch, Fisch und Eier herkommen.
Ich kaufe Bio und Produkte aus der Umgebung so oft wie möglich.

Dies ist keine “Diät” – ich esse genügend um Kraft, Energie, Aktivität und ein gesundes Körpergewicht zu halten.
Mein Ziel ist eine ausgewogene Ernährung, also esse ich sowohl tierische als auch große Mengen an pflanzlichen Produkten.
Ich habe keinen Mangel an Kohlenhydraten – allerdings esse ich sie in Form von Gemüse und Obst anstelle von Brot, Zerealien oder Teigwaren.

Meine Mahlzeiten haben wahrscheinlich mehr Fett, als du dir überhaupt vorstellen kannst, aber Fett ist eine gesunde Energiequelle wenn es aus qualitativ hochwertigen Lebensmitteln wie Avocado-, Kokos und Gras-gefüttertem Rindfleisch kommt.

Sich auf diese Art zu ernähren ist ideal für einen gesunden Stoffwechsel und die Reduzierung von Entzündungen im Körper.
Diese Ernährung bringt Kraft, Energie, sorgt für guten Schlaf und eine gesteigerte Lebensqualität.
Man beseitigt das Verlangen nach Zucker und bekommt ein gesundes Verhältnis zum Essen.

Außerdem minimiert man das Risiko für eine ganze Reihe von “Wohlstands-Krankheiten” und Leiden wie Diabetes, Erkrankungen des Herz- und Gefäßsystems, Schlaganfall und Autoimmunerkrankungen.

Also warum nicht mal den Selbstversuch wagen? Ein paar Laborwerte und Umfangmaße genommen, eine Einkaufsliste mit viel Gemüse, einem bisschen Bio-Fleisch oder leckerem Fisch geschrieben und los geht’s: 30 Tage, nur einen Monat. Wer´s für die Nachwelt festhalten möchte, macht jeden Tag einen “Mugshot” vor der weissen Wand. Ein Alkohol und Kaffee freier Monat würde wohl den meisten Studenten einmal im Jahr gut tun 😉

Falls Ihr Fragen habt oder mehr wissen wollt… bitte kommentieren!

chris(at)thinkfood co za oder lenzchristoph (skype)

Dieser Artikel erschien in Medizynisch im Juni 2012.
Das “Medizynisch” ist die StudentInnenzeitschrift der ÖH Meduni Graz
Vielen Dank nach Austria, besonders an Georg Obermayer und Bernhard Grundner!

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